ARTHUR SCHOPENHAUER

(22.2.1788 Danzig – 21.9.1860 Frankfurt am Main)

Biografie

Arthur Schopenhauer ist der Sohn des wohlhabenden Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer und der berühmten Schriftstellerin Johanna Schopenhauer. Als Schopenhauer 5 Jahre alt ist, übersiedelt die Familie nach Hamburg weil Danzig preußisch geworden ist. Sein Vater gehört nämlich zu den Anhängern Voltaires und sieht in England das Land der Freiheit und der Intelligenz. Wie die meisten führenden Bürger Danzigs hasst er die preußischen Eingriffe in die Unabhängigkeit der freien Stadt und ist empört, als sie 1793 von Preußen annektiert wird. Der Vater will, dass Arthur eine kaufmännische Karriere einschlage, deshalb wird er schon früh weltoffen erzogen. Er wird noch als Kind zwei Jahre nach Le Havre geschickt um Französisch zu lernen. Als Arthur 11 Jahre alt ist will er das Humanistische Gymnasium besuchen; er strebt eher eine Gelehrtenkarriere an. So stellt ihn der Vater vor die Wahl: entweder Kaufmann und eine Vergnügungsreise durch Europa oder Gelehrter und keine Reise. Schopenhauer entscheidet sich für die Reise, die er 1803/1804, mit 15 Jahren unternimmt. Ein Jahr darauf stirbt der Vater. Die Mutter und die Schwester Adele, die später auch Schriftstellerin wird, ziehen nach Weimar und verkehren mit Goethe, Wieland, die Schlegels und andere bedeutende Männer. Schopenhauer hingegen beginnt 1809 Naturwissenschaft zu studieren um 1810 zur Philosophie zu wechseln. Zunächst studiert er in Göttingen, später in Berlin bei Fichte und Schleiermacher. Als Arthur volljährig wird, wird ihm sein Anteil am väterlichen Erbe ausgezahlt, das er mit Sparsamkeit und Geschick verwaltet und vermehrt, so dass er nicht arbeiten gehen muss. Mit der Mutter verträgt er sich nicht gut, weil er ihren Lebensstil missbilligt und es kommt bald zum endgültigen Zerwürfnis. Er lernt wohl Goethe kennen, der ihn als interessanten Menschen betrachtet und mit dem er öfter diskutiert. Mit 23 Jahren begegnet er bei einem Besuch in Weimar dem Dichter Martin Christoph Wieland und sagt zu ihm: „Das Leben ist eine missliche Sache: ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.“ Von 1814 bis 1818, mit ca. 30 Jahren schreibt Schopenhauer in Dresden sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, das 30 Jahre keinen Erfolg verzeichnen kann. In Dresden lernt er den Philosophen Karl Christian Friedrich Krause kennen, dessen Philosophie später in Spanien und Lateinamerika unter dem Namen „Crausismo“ bekannt wird. Krause ist mit der altindischen Geisteswelt vertraut. Er spricht Sanskrit und kennt sich mit Meditationstechniken aus.

Schopenhauer promoviert in Jena mit einer Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. 1820 erfolgt seine Habilitation an der Universität Berlin. 1831 flieht er vor der Cholera aus Berlin. Schopenhauer unternimmt mehrere Reisen, u.a. von 1822-1825 nach Italien. Er erhält eine Dozentenstelle auf der Universität in Berlin und versucht neben Hegel Vorlesungen zu halten, scheitert jedoch. In der Überzeugung, die Studenten seien aufs höchste begierig, gerade ihn zu hören, verlegt er seine Vorlesung in Berlin auf die Stunde, in der der berühmte Hegel liest, und er wundert sich dann, dass kaum jemand kommt, ja dass am Ende die Hörer ganz ausbleiben. Er wendet sich in seiner Philosophie gerade gegen Hegel und benennt seine Philosophie als „Philosophie des absoluten Unsinns“. Er wendet sich auch gegen Fichte und sagt über seine Philosophie es sei ein „Hokuspokus“ und „Wischiwaschi“ Von 1833 bis zu seinem Tod lebt er zurückgezogen, zusammen mit seinem weißen Pudel in Frankfurt am Main. Er nannte seinen Pudel „Atman“ d.h. Weltseele und beschimpfte ihn öfter mit „Du Mensch!“. In seinem Zimmer standen eine Büste von Kant und ein bronzener Buddha. In seiner Lebensweise versuchte er Kant zu kopieren, d.h. einen regelmäßigen Alltag zu haben. Schopenhauer konnte Flöte spielen. Er hatte einige Affären mit Frauen aus die zwei uneheliche Kinder hervorgingen, die vor ihm jedoch noch sehr jung starben. Er hatte eine negative Einstellung zu Frauen, aber auch zu Menschen allgemein. Er wollte in einer Ehe nicht „seine Rechte halbieren und seine Pflichten verdoppeln.“. Über die Frauen sagt er: „Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen, konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt…Das Weib ist ein subordiniertes Wesen, eine Art Mittelstufe zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist.“ Es gab für ihn wenig Menschen auf der Welt die es wert waren kennen gelernt zu werden.

Seinen Ruhm als Philosoph erfährt er erst ab 50 und er nennt seine Anhänger zum Scherz „Apostel“ oder „Evangelisten“. Seine Arbeit „Über die Freiheit des menschlichen Willens“ (1837) wurde von der Königlich Norwegischen Sozietät der Wissenschaften preisgekrönt.

Philosophie

Arthur Schopenhauer ist ein pessimistischer Philosoph, pessimistisch in dem Sinn, dass er das Leben als etwas negativem, voll mit Leid und Dummheit, ansieht. Schopenhauers Pessimismus erstreckt sich insbesondere auf das menschliche Dasein. Dieses ist durch eine Fülle von Bedürfnissen belastet, die doch nie befriedigt werden könne. Bleiben die Erfüllungen immer wieder aus dann verfällt er unvermeidlich der Langeweile, die womöglich noch quälender ist. Aus beidem, aus unerfüllten Wünschen und Langeweile, erwächst unabwendbar das Leiden, das das Charakteristikum des Menschenlebens ausmacht. Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte (sagt Schopenhauer). Die Welt ist für Schopenhauer die schlechteste aller möglichen Welten, und nicht die bestmögliche wie einst Leibniz behauptete. Schopenhauer sucht Zuflucht in die indische Religion, in den Upanischaden und Veden.

Seine Begeisterung für den Buddhismus erweckt erstmals das Interesse für diese Religion auch in Europa. Sein Hauptgedanke ist, dass der Wille etwas Schädliches ist, weil er die Ursache alles Leidens ist. Nur wo kein Wille ist, findet der Mensch Ruhe. Deshalb preist er auch das Nirwana der Buddhisten an. Erst durch die völlige Verneinung des Willens zum Leben kann alles Leid überwunden werden: kein Wille = keine Vorstellung = keine Welt, „nur die Erkenntnis ist geblieben, der Wille ist verschwunden“. Das Glück, dass die Menschen suchen, gibt es für ihn nicht. Im Gegenteil: das höchste Glück ist für Schopenhauer die Abwesenheit vom Schmerz. Deshalb muss der Mensch danach trachten Vorbeugungen gegen den Schmerz zu treffen. Denn sobald er sich etwas wünscht, versucht er das Gewünschte zu erreichen, und wenn er es erreicht hat, dann ist er wieder unglücklich, oder das Erreichte bereitet ihm nicht so viel Glück wie er es sich zunächst dachte. Der Weise sucht nicht das Glück, sondern Freiheit von Sorge und Schmerz. Die Abwesenheit von Schmerzen ist „der Maßstab des Lebensglück. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langeweile, so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht…“. Das Wünschen ist gleich zu stellen mit dem Willen. Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse werden von Begehrungen aller Art, die von den leisesten Wünschen bis zu den stärksten Leidenschaften reichen, beeinflusst, dirigiert, bewertet, gefiltert, ignoriert, verdrängt. Das Vernünftige des menschlichen Intellekts ist von Grund auf bedingt und abhängig von etwas Nicht-Vernünftigem. Schopenhauer nennt dieses Nicht-Vernünftige „Wille“. Der Wille also ist die Quelle allen Leidens und gerade der Wille ist es, der mit aller Gewalt leben will, koste es was es wolle. Und wem die Not erspart bleibt, den quält die Langeweile. Das Schicksal des Menschen ist die Einsamkeit, am Ende ist jeder mit sich allein. Für Schopenhauer ist das Leben nicht lebenswert. Aus dem verhängnisvollen Kreislauf von Begehren und Leiden gibt es nur zwei Auswege: Kunst und Resignation. Selbstmord ist keine Lösung. Den höchsten Rang unter allen Künsten nimmt die Musik ein, sie ist für Schopenhauer das unmittelbare Abbild des Willens selbst und damit des Wesens der Welt. Richard Wagner verehrt in Schopenhauer den Theoretiker seiner Musik.

Ein weiteres Thema, das er in seine philosophischen Schriften bearbeitet und als Fundament der Ethik und Moral ansieht, ist das Mitleid. Das Mitleid als Motiv ist nur in den Upanischaden und Veden bzw. im frühen Christentum zu finden oder in den meisten asketischen und mystischen Strömungen. Er beschreibt das Phänomen des Mitleids mit der Fähigkeit des Menschen sich mit seinem Gegenüber zu identifizieren. Diese Identifikation hebt zum Teil das Gefühl meiner Selbst auf, weil mit dem anderen verschmolzen. Diese Vorgangsweise wird von Schopenhauer als mysteriös, als Mysterium der Ethik bezeichnet. Diese Art von Mitleid ist deshalb möglich weil die Individuen alle wesensgleich sind. Bei jedem Menschen, den man begegnet sollte man allein sein Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge fassen, denn wenn man den Menschen in seiner Würde zu sehen trachtet, dann führt das zu Hass, wenn man den Menschen in seiner Beschränktheit betrachtet, dann führt das zu Verachtung. Deshalb kann nur das Mitleid eine Menschenfreundliche Lösung sein. Sein Motto lautet bezüglich der Moral: „Hilf allen, soviel Du kannst“ und „alle Liebe ist Mitleid“. Das Gegenteil von Mitleid ist für Schopenhauer der Egoismus, der leider die Haupttriebfeder im Menschen ausmacht und der so grausam werden kann, dass der Mensch sich am Anblick fremden Leids weidet, um sein eigenes Leid zu dämpfen. Wer leben will bejaht und verschuldet Leiden, ist ihm selbst unausweichlich ausgesetzt.

Schopenhauer beschäftigt sich auch mit Fragen über die Freiheit und die Menschenliebe. Die Freiheit teilt er in physische, intellektuelle und moralische Freiheit ein. Die moralische Freiheit stellt er in engem Zusammenhang mit dem Willen. Der Begriff „Freiheit“ ist für ihn in der Transzendenz zu suchen, d.h. nicht einzelne Handlungen sind frei sondern Freiheit kann nicht von unserer Erkenntnis beobachtet werden. Zum Begriff der Freiheit schreibt er 1839 die „Preisschrift über die Freiheit des Willens“. Er sieht Freiheit als ein Mysterium an. Beim Begriff Menschenliebe kritisiert er die Ansichten Platons, weil Platon zwar die Gerechtigkeit als Tugend angepriesen hat, aber nicht die Menschenliebe. Erst das Christentum hat die Menschenliebe gefordert und sogar auf die Feindesliebe ausgedehnt.

Schopenhauers Prinzip lautet: „Die Welt ist meine Vorstellung“, somit zeigt er starke Affinitäten zum deutschen Idealismus von Hegel. Damit meint Schopenhauer, dass die Welt nur aufgrund unserer Vorstellung besteht. Die Wirklichkeit ist unsere Vorstellung. Der Empirismus wird zurückgewiesen, denn die Welt hat nur eine scheinbare Wirklichkeit. Die Welt verschwindet sobald wir uns als vorstellende Wesen wegdenken. Deshalb greift er auch zurück auf die Lehre von der Maja (Upanischaden). Maja bedeutet Trug, Schleier des Truges. Die Anregung zur indischen Philosophie und Religion erhält Schopenhauer vom Privatgelehrten Friedrich Maja, einem Schüler von Johann Gottfried Herder. Das eigentliche Urprinzip der Erde ist Brahma, die Weltseele. In diesem Brahma sieht Schopenhauer das „Ding an sich“ von Kant. Unser Leib ist für Schopenhauer uns zweimal gegeben: einmal von außen als Vorstellung, einmal von innen als Wille. In der Vorstellung erfassen wird das äußere, im Willen das innere Wesen der Welt. Die Menschen werden getrieben vom unbewussten Willen zum Leben. Seine Ansichten über den Willen werde ich gesondert unter der Überschrift „Die Welt als Wille und Vorstellung“ behandeln. Schopenhauer glaubt nicht an Fortschritt, die Welt bewegt sich im Kreis. Die Zusammenkünfte mit Goethe sind für Schopenhauer insofern bedeutend als dass Goethe sich zu der Zeit gerade mit naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt, drei Jahre zuvor, 1810 hatte Goethe seine Farbenlehre veröffentlicht, in der er unter anderem von der Einheit der Natur spricht und die der Lehre Baruch de Spinoza sehr ähnelte. Deshalb verfestigt sich bei Schopenhauer in den Diskussionen mit Goethe, einer seiner Grundgedanken, dass hinter der Vielfalt des Lebens eine einheitliche Kraft steht.

Für Schopenhauer hat alles einen Grund, deshalb ist es berechtigt nach dem Warum zu fragen. Anfang der Philosophie und Urgrund der Religion ist für Schopenhauer die Todesfurcht. Der Unsterblichkeitsglaube ist ein Zeichen entsetzlicher Angst vor dem Tode. Doch die Gedanken an den Tod verursachen mehr Leiden als der Tod selbst. Seine Arbeit zur Erlangung des Doktortitels trägt den Titel „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“. Alles in der Welt ist dem „Satz vom Grunde“ unterworfen. Schopenhauer bezieht sich mit „Grund“ nicht nur auf die kausale Erklärung sondern es gibt für ihn 4 mögliche Gründe: Den Erkenntnisgrund, die logische Begründung einer Behauptung; den Seinsgrund, in dem wir die Lage eines Gegenstands in Raum und Zeit bestimmen; den Handlungsgrund, womit wir das Motiv für eine Handlung angeben und eben den kausalen Grund, den Grund des Werdens. Schopenhauer sucht die wahre Realität hinter der scheinbaren Realität, das, was Platon in seinen „Ideen“ sieht und Kant als „Ding an sich“ bezeichnet.

Die „Aphorismen zur Lebensweisheit“ die ich im Kapitel „Gedanken zur Philosophie Schopenhauers“ näher erläutern werde, schreibt er in den letzten 10 Jahren seines Lebens und publiziert sie ohne Honorar. Sie werden wider Erwarten ein Publikumserfolg. Wenn auch die Sehnsucht nach Glück sich nicht erfüllen mag, so ist doch schon viel erreicht, wenn man das Unglück abwenden kann. Nicht Reichtum sondern Weisheit ist der richtige Weg.

Die Werke Schopenhauers sind verglichen mit den Werken Kants und Hegels, leicht zu lesen und stilistisch wohlgeformt. Alles bei Schopenhauer ist klar und geordnet, voll unverblümter Ehrlichkeit und erfrischender Lebhaftigkeit, reich an Beispielen, auch Ironie und Humor fehlen nicht.

Schopenhauer hat auf viele spätere Philosophen Einfluss genommen. Das Werk vom französischen Philosophen Henri Bergson z.B. wäre ohne Schopenhauer nicht denkbar. Auffällig sind auch die Parallelen zwischen Schopenhauer und der Psychoanalyse von Sigmund Freud. Dazu gehört die Erkenntnis, wie trügerisch unser Glaube an die Kraft der Vernunft sein kann so wie die Rolle der Sexualität als eigentliche Antriebskraft zum Lebenswillen. Er beeinflusst auch einige Künstler wie Thomas Mann, Richard Wagner oder dem Maler Max Beckmann.

C.G. Jung sagte später über Schopenhauer: „Er war der erste, der vom Leiden der Welt sprach, das uns sichtbar und augenfällig umgibt, und auch von Verwirrung, von Leidenschaft, vom Bösen – all diese Dinge, die die anderen Philosophen kaum wahrzunehmen schienen und stets in allumfassende Harmonie und Verständlichkeit aufzulösen versuchten. Hier war nun endlich ein Philosoph, der den Mut hatte zu sehen, dass es mit dem Universum nicht von Grund auf zum Besten bestellt war.“

Die Welt als Wille und Vorstellung (1818)

Heute ist „Die Welt als Wille und Vorstellung (erschienen erstmals beim Verleger F.A. Brockhaus) zu einer der lesbarsten Klassiker der Philosophiegeschichte geworden, hauptsächlich wegen ihrer stilistischen Eleganz. Das Buch gliedert sich in vier Teile: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik, Ethik. Nirwana ist das letzte Wort des gesamten Werkes.

Das Hauptwerk Schopenhauers beginnt mit dem Satz: „Die Welt ist meine Vorstellung“.

„Die Welt als Wille und Vorstellung“ beinhaltet eine Abkehr von dem Glauben der Aufklärung an die Kraft der Vernunft. Der Mensch ist wie ein Galeerensklave an seine Individualität und seinen Leib und damit an Krankheit, Leiden und Tod gekettet. Das Schicksal ist „Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod“. Wie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft will er die Grenzen der empirisch erfahrbaren Realität ziehen. Diese Welt, die bei Kant „Erscheinungswelt“ heißt, nennt Schopenhauer Vorstellung.

Die Zeitgenossen Schopenhauers, Fichte, Schelling und Hegel glaubten noch an die Vernunft als letzten Grund der Wirklichkeit, er hingegen hält die Vernunft für eine Zusatzerscheinung, für einen Wurmfortsatz des umfassenden irrationalen Willens. Das Irrationale regiert die Welt. Der Wille ist nicht vernünftig, er folgt keinem Plan.

Nach Schopenhauer führt uns unser Körper und nicht unsere Vernunft zur wahren Realität. Unser Körper ist auf zwei Arten erfahrbar: einmal als Objekt, als Vorstellung, indem wir ihn von Außen betrachten, wie in der Medizin. Wir erfahren unseren Körper aber auch durch unsere primären Triebe wie Hunger, Durst, im sexuellen Verlangen oder im Schmerz. Wir erleben dann ein „Wille“, dass unserem eigenen Willen entspricht. Von diesem Wollen kann man auf das Wollen aller anderen Menschen schließen. Den Kern unserer Existenz können wir in allen anderen Wesen wieder erkennen. Wir erfahren die wahre Realität als leibliche, physische Realität.

Schopenhauer übernimmt ein Teil der Philosophie von Platon, wenn er meint, dass dem Menschen lediglich die Vorstellungen von den Dingen gegeben sind. Der Mensch weiß nichts von einem Baum selbst, er weiß lediglich von seiner Vorstellung vom Baum. Deshalb sagt Schopenhauer, dass der Mensch „keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das die Sonne sieht, und eine Hand, die die Erde fühlt.“

Schopenhauer lehnt sich an Kant und spricht den Gegenständen Raum, Zeit und Kausalität ab um diese drei Komponenten dem menschlichen Geist zuzusprechen. Zeit und Raum gehören beide zu den Erscheinungen. Der Wille kann somit nicht zeitlich bestimmt werden, noch kann er aus getrennten Willensakten bestehen. Der Wille ist etwas Einheitliches und Zeitloses. Mein Einzeldasein ist eine Täuschung. Hinter der Erscheinung jedoch muss etwas sein, das erscheint. Kant hatte hierfür den Ausdruck „Ding an sich“ gebraucht. Dieses „Ding an sich“ war aber bei Kant etwas höchst unbestimmtes, wie ein „x“ in der Mathematik. Schopenhauer nennt das „Ding an sich“ von Kant: „Wille“. Für ihn ist der Wille u.a. auch „die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert“

Dieser Wille ist aber ein Urwille, eine Urkraft, die nichts mit dem oberflächlich bewussten Willen des Menschen zu tun hat. Er ist ein blinder, unaufhaltsamer Drang. Der Urwille, der sich selbst schafft verursacht das Leiden. Den stärksten Anstoß zum Philosophieren gibt das Wissen um den Tod und die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens. Der Mensch soll etwas interesselos betrachten, sich in einem Zustand der Kontemplation begeben. Der Blick soll auf die Ideen wandern und dies ist für Schopenhauer eine Sache der Kunst. Jedoch bringt das Schaffen und Betrachten von Kunstwerken keine dauerhafte Erlösung vom Willen und vom Leiden. Der Mensch wird nur für Augenblicke von seiner schmerzvollen Individualität befreit, die Kunst ist nur eine vorübergehende Besänftigung. Eine seiner Hauptfragen lautet: Wie vermag sich dann der Mensch, der doch selber aus dem Urwillen stammt, in Freiheit gegen den Willen zu wenden? Der Mensch wird frei, wenn er sich zugesteht, dass alles war er tut und will zu seinem Wesen gehört, wenn er weiß, dass er nicht anders kann, weil er so ist, wie er ist. Das Sosein besteht für Schopenhauer in seinem intelligiblen (vor allem wirklichen Daseins) Charakter, d.h. der Mensch hat sich vor seiner Geburt bereits für dieses Leben entschieden. Der Mensch ist somit in seinem empirischen Dasein unfrei, aber in der Wurzel seines Wesens ist er frei. Die Verneinung des Willens kann in zwei Stufen geschehen: auf der theoretischen und auf der praktischen Stufe. Zunächst muss der Mensch erkennen, dass der Urwille der Grund alles Leidens in der Welt ist. Wenn der Mensch das erkannt hat, sieht er den Urwillen als Ursprung der Welt, aber nicht als Ursprung der Wirklichkeit. Die Konsequenz daraus ist die Askese, an deren Ende der völlige innere Frieden steht. Alles ist im Grunde Eines, damit wird die Individualität durchbrochen. Das Leiden des anderen wird zum eigenen Leid, aus dieser Einsicht erwächst das Mitleid. Aus Egoismus entspringt das Böse, aus Mitleid das Gute. Das ist das Grundprinzip der Ethik Schopenhauers. Die Geschichte der Menschheit ist für Schopenhauer nichts als ein Tummelplatz blinder Leidenschaften, das individuelle Leben ein sinnloses Sich-im-Kreise-Drehen mit dem Tode als Ende. Es gibt keinen Fortschritt, laut Schopenhauer bewegt sich die Welt im Kreis.

Zitate und Textauszüge

Meine ganze Philosophie lässt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens.

Alle großen theoretischen Leistungen…werden dadurch zustande gebracht, dass ihr Urheber alle Kräfte seines Geistes auf einen Punkt richtet…dass die ganze übrige Welt ihm…verschwindet und sein Gegenstand ihm alle Realität ausfüllt…

Im Allgemeinen…haben die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt; und die Toren, d.h. die unermessliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe getan, nämlich das Gegenteil: Und so wird es denn auch ferner bleiben.“

Die Wilden fressen einander, die Zahmen betrügen einander: das nennt man den Weltlauf.

Das Erstaunen, welches zum Philosophieren treibt, entspringt offenbar aus dem Anblick des Übels und des Bösen in der Welt…Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärkten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt gibt.

Die Erkenntnis, dass alle Menschen in einer tieferen Einheit miteinander verbunden sind, dass der Tod zwar unsere Individualität, aber nicht das Wesen des Menschen zerstört, dass der trügerischen Existenz in der Zeit die Erfahrung des ewigen Eins-Seins folgt – all dies zeigt ihm wie in einem Brennglas sein Leben in einer umfassenden und tröstlichen Perspektive. (Aus Schopenhauers Aufsatz „Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich.

Da unsere individuelle Existenz ohnehin nur eine von Schuld und Egoismus geprägte Erscheinungsform des Willens ist, sollte der Tod als eine Reinigung begriffen werden, eine Gelegenheit, sich vom Schein des Ichs zu befreien…Das sterben ist der Augenblick jener Befreiung von der Einseitigkeit einer Individualität, welche nicht den inneren Kern unseres Wesens ausmacht.

Aus: „Aphorismen zur Lebensweisheit“:

Also was einer an sich selber hat ist zu seinem Lebensglücke das Wesentlichste. Bloß weil dieses, in der Regel, so gar wenig ist, fühlen die meisten von denen, welche über den Kampf mit der Not hinaus sind, sich im Grunde ebenso unglücklich, wie die, welche sich noch darin herumschlagen. Die Leere ihres Innern, das Fade ihres Bewusstseins, die Armut ihres Geistes treibt sie zur Gesellschaft, die nun aber aus eben solchen besteht…Langeweile, welche aus der eben geschilderten Armut und Leere des Geistes entspringt. (S. 18)

Wenn nun hierbei wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so entsteht ein schreiendes und verderbliches Missverhältnis zwischen der äußeren Ruhe und dem innern Tumult …. Infolge irgendeines Affekts, es in unserm Innern kocht, wir aber nach außen nichts davon sehen lassen dürfen. (S.22)

Abnormes Übergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Übermaß der Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, dass alle ausgezeichneten und überlegenen Menschen melancholisch seien. (S.23-24)

… und zwar pflegt die Empfänglichkeit für angenehme Eindrücke desto schwächer zu sein, je stärker die für unangenehme ist, und umgekehrt. (S. 24)

Der allgemeinste Überblick zeigt uns, als die beiden Feinde des menschlichen Glückes, den Schmerz und die Langeweile. (S. 26)

Darum führt die Eminenz (Größe) des Geistes zur Ungeselligkeit. … während der Hochbegabte die ödeste Umgebung mit seinen Gedanken bevölkert und belebt. (S.28)

Das Glück gehört denen, die sich selber genügen. Denn alle äußern Quellen des Glückes und Genusses sind, ihrer Natur nach, höchst unsicher, misslich, vergänglich und dem Zufall unterworfen….Das Schicksal ist grausam und die Menschen sind erbärmlich. (S.31)

Demnach ist eine vorzügliche, eine reiche Individualität und besonders sehr viel Geist zu haben ohne Zweifel das glücklichste Los auf Erden…Wem nun, durch Gunst der Natur und des Schicksals, dieses Los beschieden ist, der wird mit ängstlicher Sorgfalt darüber wachen, dass die innere Quelle seines Glückes ihm zugänglich bleibe; wozu Unabhängigkeit und Muße die Bedingungen sind. (S.32)

Nun ist aber erkenntnisloses Wollen das Gemeinste, was es gibt (S.36)

Unser praktisches, reales Leben nämlich ist, wenn nicht die Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es bewegen, wird es bald schmerzlich: darum sind die allein beglückt, denen irgendein Überschuss des Intellekts, über das zum Dienst ihres Willens erforderte Maß, zuteil geworden (S. 37)

Ein solches intellektuelles Leben schützt aber nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen die verderblichen Folgen derselben. Es wird nämlich zur Schutzwehr gegen schlechte Gesellschaft und gegen die vielen Gefahren, Unglücksfälle, Verluste und Verschwendungen, in die man gerät, wenn man sein Glück ganz in der realen Welt such. So hat zum Beispiel mir meine Philosophie nie etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart. (S. 38)

Hieraus wird sogar erklärlich, dass die höchst seltenen Leute dieser Art, selbst beim besten Charakter, doch nicht jene innige und grenzenlose Teilnahme an Freunden, Familie und Gemeinwesen zeigen, deren manche der andern fähig sind: denn sie können sich zuletzt über alles trösten, wenn sie nur sich selbst haben. (S.39)

Demgemäß sehn wir die großen Geister aller Zeiten auf freie Muße den allerhöchsten Wert legen. Denn die freie Muße eines jeden ist so viel wert, wie er selbst wert ist … Dem entspricht auch, dass Aristoteles das philosophische Leben für das glücklichste erklärt…und also zusammentrifft mit Goethes Ausspruch, im Wilhelm Meister: „Wer mit einem Talent, zu einem Talent geboren ist, finden in demselben sein schönstes Dasein.“ (41)

„Des Narren Leben ist ärger denn der Tod!“ (Jesus Sirach 22,12)

„Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens“ (Koheleth 1,18) S.42

…die Definition der Philister (Spießbürger) so aussprechen, dass sie Leute wären, die immerfort auf das ernstlichste beschäftigt sind mit einer Realität, die keine ist…Er ist demnach ein Mensch ohne geistige Bedürfnisse:… ernstlich, in Hinsicht auf ihn selbst, dass er ohne geistige Genüsse bleibt. … Kein Drang nach Erkenntnis und Einsicht, um ihrer selbst willen, belebt sein Dasein, auch keiner nach eigentlich ästhetischen Genüssen…Wirkliche Genüsse für ihn sind allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos. (S. 43).

Daher ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst, der sich dem tierischen nähert, eigen und charakteristisch. Nichts freut ihn, nichts erregt ihn, nichts gewinnt ihm Anteil ab. …Aus der aufgestellten Grundeigenschaft des Philisters folgt zweitens, in Hinsicht auf andere, dass, da er keine geistigen, sondern nur physischen Bedürfnisse hat, er den suchen wird, der diese, nicht den, der jene zu befriedigen imstande ist. Am allerwenigstens wird daher unter den Anforderungen, die er an andere macht, die irgend überwiegender geistiger Fähigkeiten sein: vielmehr werden diese, wenn sie ihm aufstoßen, seinen Widerwillen, ja, seinen Hass erregen; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität, und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt, den er aufs sorgfältigste versteckt, indem er ihn sogar sich selber zu verhehlen sucht, wodurch aber gerade solcher bisweilen bis zu einem stillen Ingrimm anwächst…Das große Leiden aller Philister ist, dass Idealitäten ihnen keine Unterhaltung gewähren, sondern sie, um der Langenweile zu entgehen, stets der Realitäten bedürfen…während hingegen die Idealitäten unerschöpflich und an sich unschuldig und unschädlich sind. (S44-45)

Der Reichtum gleicht dem Seewasser: je mehr man davon trinkt, desto durstiger wird man. – Dasselbe gilt vom Ruhm. (S47)

Geld allein ist das absolut Gute: weil es nicht bloß einem Bedürfnis in concreto begegnet, sondern dem Bedürfnis überhaupt, in abstracto. Vorhandenes Vermögen soll man betrachten als eine Schutzmauer gegen die vielen möglichen Übel und Unfälle; nicht als eine Erlaubnis oder gar Verpflichtung, die Plaisirs der Welt heranzuschaffen. (S48)

Demnach ist Stolz die von innen ausgehende, folglich direkte Hochschätzung seiner selbst; hingegen Eitelkeit das Streben, solche von außen her, also indirekt zu erlangen. Dementsprechend macht die Eitelkeit gesprächig, der Stolz schweigsam. (S. 61)

Freilich legt der, welcher schimpft, dadurch an den Tag, dass er nichts Wirkliches und Wahres gegen den andern vorzubringen hat; da er sonst dieses als die Prämissen geben und die Konklusion getrost den Hörern überlassen würde; statt dessen er die Konklusion gibt und die Prämissen schuldig bleibt. (S. 66)

Ja, Vater Gellerts gar schöne und rührende Klage darüber verdient wohl einmal wieder in Erinnerung gebracht zu werden:

Dass oft die allerbesten Gaben

Die wenigsten Bewundrer haben,

Und dass der größte Teil der Welt

Das Schlechte für das Gute hält;

Die Übel sieht man alle Tage.

Jedoch, wie wehr man dieser Pest?

Ich zweifle, dass sich diese Plage

Aus unserer Welt verdrängen lässt.

Ein einzig Mittel ist auf Erden,

Allein es ist unendlich schwer:

Die Narren müssen weise werden;

Und seht! Sie Werdens nimmermehr.

Nie kennen sie den Wert der Dinge.

Ihr Auge schließt, nicht ihr Verstand:

Sie loben ewig das Geringe,

Weil sie das Gute nie gekannt.

Hieraus erklärt es sich, dass, in welcher Gattung auch immer das Vortreffliche auftreten mag, sogleich die gesamte, so zahlreiche Mittelmäßigkeit verbündet und verschworen ist, es nicht gelten zu lassen, ja, womöglich, es zu ersticken. … muss der Ruhm, dem Neid zum Trotz, erkämpft werden, und den Lorbeer teilt ein Tribunal entschieden ungünstiger Richter aus…der Ruhm vor denen flieht, die ihn suchen, und denen folgt, die ihn vernachlässigen: denn jene bequemen sich dem Geschmack ihrer Zeitgenossen an, diese trotzen ihm. (S101-103)

Nicht dem Vergnügen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach…Der Vernünftige geht auf Schmerzlosigkeit, nicht auf Genuss aus. (S. 113)

Demnach nun hat das glücklichste Los der, welcher sein Leben ohne übergroße Schmerzen, sowohl geistige, als körperliche, hinbringt; nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden, oder die großen Genüsse zuteil geworden. Wer nach denen letzteren das Glück eines Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen. Denn die Genüsse sind und bleiben negativ: dass sie beglücken ist ein Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des Lebensglückes. Kommt zu einem schmerlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Glück im wesentlichen erreicht…Hingegen bleibt man im Gewinn, wenn man Genüsse opfert, um Schmerzen zu entgehen…denn alle Genüsse sind schimärisch, und über die Versäumnis derselben zu trauern wäre kleinlich, ja lächerlich…Während wir nämlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wünsche uns die Schimären eines Glückes vor, das gar nicht existiert, und verleiten uns sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. (S.114-115)

Wer ein Übel los sein will, der weiß immer was er will: wer was Besseres will, als er hat, der ist ganz starblind…Le mieux est l’ennemi du bien (Das Bessere ist der Feind des Guten)…Negativität des Genusses und der Positivität des Schmerzes…Verwerfung der Genüsse nötig erachteten; weil sie in diesen nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern…dass Glück und Genuss eine Fata Morgana sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; dass hingegen Leiden und Schmerz Realität haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion, noch Erwartung bedürfen. Fruchtet nun die Lehre. (S.116)

Wo sie (die Freude) sich wirklich einfindet, da kommt sie, in der Regel, ungeladen und ungemeldet, von selbst und sans facon, ja, still herangeschlichen, oft bei den unbedeutendsten, futilsten Anlässen, unter den alltäglichsten Umständen, ja, bei nichts weniger als glänzenden, oder ruhmvollen Gelegenheiten: ist, wie das Gold in Australien, hierhin und dorthin gestreuet, nach der Laune des Zufalls, ohne alle Regel und Gesetz, meint nur in ganz kleinen Körnchen, höchst selten in großen Massen. (S. 118)

Überhaupt aber tragen glänzende, rauschende Feste und Lustbarkeiten stets eine Leere, wohl gar einen Misston im Innern; schon weil sie dem Elend und der Dürftigkeit unsers Daseins laut widersprechen, und der Kontrast erhöht die Wahrheit. (S. 119)

Denn die Ferne, welche dem Auge die Gegenstände verkleinert, vergrößert sie dem Gedanken…Denn es ist durchaus töricht, eine gute gegenwärtige Stunde von sich zu stoßen, oder sie sich mutwillig zu verderben, aus Verdruss über das Vergangene, oder Besorgnis wegen des Kommenden…Glaube, dass deine Tage ebenso viele Leben sind. (S.124)

Je mehr nun aber einem die Furcht Ruhe lässt, desto mehr beunruhigen ihn die Wünsche, die Begierden und Ansprüche…sollten wir stets eingedenk sein, dass der heutige Tag nur einmal kommt und nimmer wieder…Aber wir verleben unsre schönen Tage, ohne sie zu bemerken: erst wenn die schlimmen kommen, wünschen wir jene zurück. Tausend heitere, angenehme Stunden lassen wir, mit verdrießlichem Gesicht, ungenossen an uns vorüberziehen, um nachher, zur trüben Zeit, mit vergeblicher Sehnsucht ihnen nachzuseufzen. (S.125)

Denn je weniger Erregung des Willens, desto weniger Leiden (S.126)

Ganz er selbst sein darf jeder nur solange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei. … Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen verhüllt. Unser Reden, Tun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: und erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre Gesinnung erraten, wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes. (S 129)

…denn die geistige Überlegenheit verletzt durch ihre bloße Existenz, ohne alles Zutun des Willens. (S. 130)

…Das Gegenteil hievon macht die gewöhnlichen Leute so gesellig und akkommodant: es wird ihnen nämlich leichter, andere zu ertragen, als sich selbst. Noch kommt hinzu, dass was wirklichen Wert hat in der Welt nicht geachtet wird, und was geachtet wird keinen Wert hat. (S 131)

Bekanntlich werden Übel dadurch erleichtert, dass man sie gemeinschaftlich erträgt: zu diesen scheinen die Leute die Langeweile zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um sich gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sonder auf Furcht vor der Einsamkeit, indem es nicht sowohl die holdselige Gegenwart der andern ist, die gesucht, als vielmehr die Öde und Bekommenheit des Alleinseins, nebst der Monotonie des eigenen Bewusstseins, die geflohen wird; welcher zu entgehen man daher auch mit schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, im gleichen das Lästige und den Zwang, den eine jede notwendig mit sich bringt, sich gefallen lässt. – Hat hingegen der Widerwille gegen dieses alles gesiegt und ist, infolge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhärtung gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so dass sie die oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man mit größter Behaglichkeit immerfort allein sein, ohne sich nach Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedürfnis derselben kein direktes ist und man andrerseits sich jetzt an die wohltätigen Eigenschaften der Einsamkeit gewöhnt hat. (S.132)

Denn monoton … ist der Sinn und Geist der allermeisten Menschen. Sehn doch viele von ihnen schon aus, als hätten sie immerfort nur einen und denselben Gedanken, unfähig irgendeinen andern zu denken (S. 133)

Übrigens kann man die Geselligkeit auch betrachten als ein geistiges Erwärmen der Menschen aneinander, gleich jenem körperlichen, welches sie, bei großer Kälte, durch Zusammendrängen hervorbringen. Allein wer selbst viel geistige Wärme hat, bedarf solcher Gruppierung nicht…und „er ist sehr ungesellig“ sagt beinahe schon „er ist ein Mann von großen Eigenschaften.“ (S. 134)

…so wird durch anhaltende Zurückgezogenheit und Einsamkeit, unser Gemüt so empfindlich, dass wir durch die unbedeutendsten Vorfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder gekränkt, oder verletzt fühlen; während der, welcher stets im Getümmel bleibt, dergleichen gar nicht beachtet. …auch in der Gesellschaft, in gewissem Grade, allein zu sein, demnach was er denkt nicht sofort den andern mitzuteilen….diejenige Gleichgültigkeit in sich befestigen, die das sicherste Mittel ist, um stets eine lobenswerte Toleranz zu üben…In diesem Sinne kann man auch die Gesellschaft einem Feuer vergleichen, an welchem der Kluge sich in gehöriger Entfernung wärmt, nicht aber hineingreift, wie der Tor, der dann, nachdem er sich verbrannt hat, in die Kälte der Einsamkeit flieht und jammert, dass das Feuer brennt. (S140-141)

Das von den Beneideten dagegen anzuwendende Verfahren besteht im Fernhalten aller dieser Schar Angehörigen und im möglichsten Vermeiden jeder Berührung mit ihnen, so dass sie durch eine weite Kluft abgetrennt bleiben; (S. 142).

Jeder Tag ist ein kleines Leben, – jedes Erwachen und Aufstehen eine kleine Geburt, jeder frische Morgen eine kleine Jugend, und jedes Zubettgehen und Einschlafen ein kleiner Tod. (146)

Wie kleine Gegenstände, dem Auge nahe gehalten, unser Gesichtsfeld beschränkend, die Welt verdecken, – so werden oft die Menschen und Dinge unserer nächsten Umgebung, so höchst unbedeutend und gleichgültig sie auch seien, unsere Aufmerksamkeit und Gedanken über die Gebühr beschäftigen, dazu noch auf unerfreuliche Weise, und werden wichtige Gedanken und Angelegenheiten verdrängen. Dem soll man entgegenarbeiten. (S148)

Zumal aber soll wer hoher und edeler Betrachtungen fähig ist seinen Geist durch persönliche Angelegenheiten und niedrige Sorgen nie so ganz einnehmen und erfüllen lassen, dass sie jenen den Zugang versperren: denn das wäre recht eigentlich propter vitam vivendi perdere causas. – Freilich ist zu dieser Lenkung und Ablenkung unserer selbst, wie zu so viel andrem, Selbstzwang erfordert: zu diesem aber sollte uns die Überlegung stärken, dass jeder Mensch gar vielen und großen Zwang von außen zu erdulden hat, ohne welchen es in keinem Leben abgeht; dass jedoch ein kleiner, an der rechten Stelle angebrachter Selbstzwang nachmals vielem Zwange von außen vorbeugt…Durch nichts entziehen wir uns so sehr dem Zwange von außen, wie durch Selbstzwang: das besagt Senecas Ausspruch: si tibi vis omnia subjicere, te subjice rationi (Willst du alle Dinge deiner Gewalt unterwerfen, unterwirf dich deiner Vernunft). (S. 149)

… und wie demnach unser physisches Leben nur in und durch eine unaufhörliche Bewegung besteht; so verlangt auch unser inneres, geistiges Leben fortwährend Beschäftigung, Beschäftigung mit irgend etwas, durch Tun oder Denken; …Unser Dasein nämlich ist ein wesentlich rastloses. (S. 150)

Sich zu mühen und mit dem Widerstande zu kämpfen ist dem Menschen Bedürfnis, wie dem Maulwurf das Graben…Hindernisse überwinden ist der Vollgenuss seines Daseins. (151)

Inzwischen übe man, um Menschen ertragen zu lernen, seine geduld an leblosen Gegenständen, welche, vermöge mechanischer, oder sonst physischer Notwendigkeit, unserm Tun sich hartnäckig widersetzen; wozu täglich Gelegenheit ist. Die dadurch erlangte Geduld lernt man nachher auf Menschen übertragen, indem man sich gewöhnt, zu denken, dass auch sie, wo immer sie uns hinderlich sind, dies vermöge einer ebenso strengen, aus ihrer Natur hervorgehenden Notwendigkeit sein müssen, wie die, mit welcher die leblosen Dinge wirken; daher es ebenso töricht ist, über ihr Tun sich zu entrüsten, wie über einen Stein, der uns in den Weg rollt. (S 157-158)

Die eigentlichen großen Geister horsten, wie die Adler, in der Höhe, allein. (158)

Was jedoch, selbst bei vieler Übereinstimmung, Menschen auseinander hält, auch wohl vorübergehende Disharmonie zwischen ihnen erzeugt, ist die Verschiedenheit der gegenwärtigen Stimmung, als welche fast immer für jeden eine andere ist, nach Maßgabe seiner gegenwärtigen Lage, Beschäftigung, Umgebung, körperlichen Zustandes, augenblicklichen Gedankenganges usw. Daraus entstehen zwischen den harmonierendesten Persönlichkeiten Dissonanzen. Die zur Aufhebung dieser Störung erforderliche Korrektion stets vornehmen und eine Gleichschwebende Temperatur einführen zu können, wäre eine Leistung der höchsten Bildung. (159)

Keiner kann über sich sehn. Hiermit will ich sagen: jeder sieht am andern nur so viel, als er selbst auch ist: denn er kann ihn nur nach Maßgabe seiner eigenen Intelligenz fassen und verstehen. Ist nun diese von der niedrigsten Art; so werden alle Geistesgaben, auch die größten, ihre Wirkung auf ihn verfehlen und er an dem Besitzer derselben nichts wahrnehmen, als bloß das Niedrigste in dessen Individualität, also nur dessen sämtliche Schwächen, Temperaments- und Charakterfehler…Denn alle Geister sind dem unsichtbar, der keinen hat. (S.160)

Auch wird man einsehen, dass Dummköpfen und Narren gegenüber, es nur einen weg gibt, seinen Verstand an den Tag zu legen, und der ist, dass man mit ihnen nicht redet… Rochefoucauld hat treffend bemerkt, dass es schwer ist, jemanden zugleich hoch zu verehren und sehr zu lieben. (S.161)

Die meisten Menschen sind so subjektiv, dass im Grunde nichts Interesse für sie hat, als ganz allein sie selbst. (162)

Einen großartigen Beweis von der erbärmlichen Subjektivität der Menschen, infolge welcher sie alles auf sich beziehen und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehen, liefert die Astrologie, welche den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien. Dies aber ist zu allen und schon in den ältesten Zeiten geschehen. (S.163)

Chi non istima vien stimato (Wer nicht achtet wird geachtet) S.164

Die Natur hingegen macht es wie Shakespeare und Goethe, in deren Werken jede Person, und wäre sie der Teufel selbst, während sie dasteht und redet, Recht behält. (S.166)

…die Wilden fressen einander und die Zahmen betrügen einander, und das nennt man den Lauf der Welt. (S. 168-169)

…die Regel verstehen ist das erste, sie ausüben lernen ist das zweite. Jenes wird durch Vernunft auf einmal, dieses durch Übung allmählich gewonnen. (S. 169)

Tout ce qui n’est pas naturel est imparfait (Alles was nicht natürlich ist, ist unvollkommen). S.170

Das Affektieren irgendeiner Eigenschaft, das Sich brüsten damit, ist ein Selbstgeständnis, dass man sie nicht hat. Sei es Mut, oder Gelehrsamkeit, oder Geist, oder Witz, oder Glück bei Weibern, oder Reichtum, oder vornehmer Stand, oder was sonst, womit einer grosstut; so kann man daraus schließen, dass es ihm gerade daran in etwas gebricht: denn wer wirklich eine Eigenschaft vollkommen besitzt, dem fällt es nicht ein, sie herauszulegen und zu affektieren, sondern er ist darüber ganz beruhigt. (S. 170-171)

Wie man das Gewicht seines eigenen Körpers trägt, ohne es, wie doch das jedes fremden, den man bewegen will, zu fühlen; so bemerkt man nicht die eigenen Fehler und Laster, sondern nur die der andern. …Allein meisten verhält er sich dabei wie der Hund, welcher gegen den Spiegel bellt, weil er nicht weiß, dass er sich selbst sieht, sondern meint, es sei ein anderer Hund. S. 171

Demzufolge wird jeder genommen nach seinem Amt, oder Geschäft, oder Nation, oder Familie, also überhaupt nach der Stellung und Rolle, welche die Konvention ihm erteilt hat. S.172

Es gibt wenig Dinge, welche so sicher die Leute in gute Laune versetzen, wie wenn man ihnen ein beträchtliches Unglück davon man kürzlich getroffen worden, erzählt, oder auch irgendeine persönliche Schwäche ihnen unverhohlen offenbart. – Charakteristisch! – S. 173

Die Gegenwart ist eine mächtige Göttin (Tasso) S. 174

Ist doch Geist und Verstand an den Tag legen, nur eine indirekte Art, allen andern ihre Unfähigkeit und Stumpfsinn vorzuwerfen…Neid. Denn die Befriedigung ihrer Eitelkeit ist, wie man täglich sehn kann, ein Genuss, der den Leuten über alles geht, der jedoch allein mittelst der Vergleichung ihrer selbst mit andern möglich ist. Auf keine Vorzüge aber ist der Mensch so stolz, wie auf die geistigen: beruht doch nur auf ihnen sein Vorrang vor den Tieren…auf Hochachtung rechnen dürfen, haben geistige Vorzüge solche keineswegs zu erwarten: im günstigsten Fall werden sie ignoriert; sonst aber angesehen als eine Art Impertinenz, oder als etwas, wozu ihr Besitzer unerlaubterweise gekommen ist und nun sich untersteht damit zu stolzieren…Kaum wird es dem demütigsten Betragen gelingen Verzeihung für geistige Überlegenheit zu erbetteln. (S. 175)

Aus unserm Zutrauen zu andern haben sehr oft Trägheit, Selbstsucht und Eitelkeit den größten Anteil: Trägheit, wenn wir, um nicht selbst zu untersuchen, zu wachen, zu tun, lieben einem andern trauen; Selbstsucht, wenn das Bedürfnis von unsern Angelegenheiten zu reden uns verleitet, ihm etwas anzuvertrauen; Eitelkeit, wenn es zu dem gehört, worauf wir uns etwas zugute tun…Höflichkeit ist Klugheit; folglich ist Unhöflichkeit Dummheit: sich mittelst ihrer unnötiger – und Mutwilligerweise Feinde machen ist Raserei…so kann man selbst störrische und feindselige Menschen, durch etwas Höflichkeit und Freundlichkeit, biegsam und gefällig machen…Höflichkeit mit Stolz zu vereinigen ist ein Meisterstück (S.177-178)

Man bestreite keines Menschen Meinung; sondern bedenke, dass wenn man alle Absurditäten, die er glaubt, ihm ausreden wollte, man Methusalems Alter erreichen könnte, ohne damit fertig zu werden. Auch aller, selbst noch so wohlgemeinter, korrektioneller Bemerkungen soll man, im Gespräche, sich enthalten: denn die Leute zu kränken ist leicht, sie zu bessern schwer, wo nicht unmöglich…Wer da will, dass sein Urteil Glauben finde, spreche es kalt und ohne Leidenschaftlichkeit aus. Denn alle Heftigkeit entspringt aus dem Willen: daher wird man diesem und nicht der Erkenntnis, die ihrer Natur nach kalt ist, das Urteil zuschreiben. (S.179)

Denn so unempfänglich und gleichgültig die Leute gegen allgemeine Wahrheiten sind, so erpicht sind sie auf individuelle…Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht – Wenn ich mein Geheimnis verschweige, ist es mein Gefangener: lasse ich es entschlüpfen, bin ich sein Gefangener. – Am Baume des Schweigens hängt seine Frucht, der Friede…“Weder lieben noch hassen“ enthält die Hälfte aller Weltklugheit: „nichts sagen und nichts glauben“ die andere Hälfte. (S181)

Im Leben der Menschen geht es zu wie bei gewissen Spielen. Wenn das, was man am liebsten werfen würde, nicht fällt, muss man das, was durch Zufall gerade fällt, durch Kunst verbessern (Terenz). S. 184.

…und der Wechsel allein ist das Beständige. (186)

…Wucher der Zeit: seine Opfer werden alle, die nicht warten können. (S.187)

Der vollkommene Weltmann wäre der, welcher nie in Unschlüssigkeit stockte und nie in Übereilung geriete. Nächst der Klugheit aber ist Mut eine für unser Glück sehr wesentliche Eigenschaft…Denn das ganze Leben ist ein Kampf, jeder Schritt wird uns streitig gemacht, und Voltaire sagt mit Recht: On ne réussit dans ce monde, qu’à la pointe de l’épée, et on meurt les armes à la main (Man kommt nur mit gezücktem Degen vorwärts in der Welt, und man stirbt mit den Waffen in der Hand). S.191

Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des Willens: der größere Teil unsers Wesens geht demnach im Erkennen auf. S.193

Daher kommt, wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen Wesens hervor, und können keine Pestalozzische Erziehungskünste aus einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden. S.195

…alle Dinge sind herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein. S 195

Demzufolge kann man sagen, dass in der Kindheit das Leben sich uns darstellt wie eine Theaterdekoration von weitem gesehen; im Alter, wie dieselbe in der größten Nähe. Zum Glücke der Kindheit trägt endlich noch folgendes bei. Wie im Anfange des Frühlings alles Laub die gleiche Farbe und fast die gleiche Gestalt hat; so sind auch wir, in früher Kindheit, alle einander ähnlich, harmonieren daher vortrefflich. Aber mit der Pubertät fängt die Divergenz an und wird, wie die der Radien eines Zirkels, immer größer…Man hätte viel gewonnen, wenn man, durch zeitige Belehrung, den Wahn, dass in der Welt viel zu holen sei, in den Jünglingen ausrotten könnte…Der Jüngling erwartet seinen Lebenslauf in Form eines interessanten Romans…Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen Unausweichbahre Schmerzen herbeiführt….Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück; so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. (S.196-197)

Wann wir jung sind, vermeinen wir, dass die in unserm Lebenslauf wichtigen und folgenreichen Begebenheiten und Personen mit Pauken und Trompeten auftreten werden: im Alter zeigt jedoch die retrospektive Betrachtung, dass sie alle ganz still, durch die Hintertür und fast unbeachtet hereingeschlichen sind. Man kann ferner, in der bis hierher betrachteten Hinsicht, das Leben mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem jeder, in der ersten Hälfte seiner Zeit, die rechte, in der zweiten aber die Kehrseite zu sehn bekäme: letztere ist nicht so schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen lässt…Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil darauf, dass wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehn; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt. (S.198-199)

Man muss alt geworden sein, also lange gelebt haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist. (S. 200)

…ein Dasein, dessen wahrer Wert jedes Mal nur nach der Abwesenheit der Schmerzen, nicht nach der Anwesenheit der Genüsse, noch weniger des Prunkes, zu schätzen ist. (211).

Im Upanischad des Veda wird die natürliche Lebensdauer auf hundert Jahre angegeben…In jedem früheren Alter stirbt man bloß an Krankheiten, also vorzeitig. (S.213)

Hauptwerke

1859: Die Welt als Wille und Vorstellung.

1851: Aphorismen der Lebensweisheit.

Quellennachweis

Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken. Ungekürzte Ausgabe. München, DTV, 17. Auflage, 1988. (Seiten 221-229)

Poller, Horst: Die Philosophen und ihre Kerngedanken. Ein geschichtlicher Überblick. Olzog Verlag München, 2005. (Seiten 287-293)

Grabner-Haider, Anton: Die wichtigsten Philosophen. Marix Verlag, Wiesbaden, 2006. (142-145)

Stokes, Philip: Philosophen. 100 große Denker und ihre Ideen von der Antike bis heute.(104-105)

Overath, Angelika; Koch, Manfred; Overath, Silvia: Genies und ihre Geheimnisse. 100 biographische Rätsel. List, Berlin, 2007. (S.56-57)

Sandvoss, Ernst R.: Geschichte der Philosophie. Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart. DTV, München, 2001. (S.337-338)

Ernst von Aster: Geschichte der Philosophie. Kröner, Stuttgart, 1998. (S.333-337)

Spierling, Volker: Kleine Geschichte der Philosophie. Große Denker von der Antike bis zur Gegenwart. Erweiterte Neuausgabe. Piper, München, 2006. (Seiten: 256-262).

Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes. Piper, München, ungekürzte Taschenbuchausgabe, 2005. (S. 760-766)

Schopenhauer, Arthur: Aphorismen der Lebensweisheit. Anaconda, 2007

Gedanken zur Philosophie Arthur Schopenhauers

Mich wundert es nicht, dass Schopenhauer nur mehr den Ausweg ins Nirwana, ins willenlose Sein sieht, nachdem er so viele wahre aber letztendlich negative Erkenntnisse über unser Menschsein hat. Ziemlich alles was er über uns Menschen sagt stimmt, ist wahr. Es wundert mich, dass er so wenig über Gott und die Liebe spricht. Diese Komponente lässt er fast gänzlich aus, denn er konzentriert sich dermaßen auf den Menschen in seinen Verfehlungen, dass in seiner Philosophie kein Platz mehr ist für Gott und die Liebe. Normalerweise müsste man so einen Menschen als frustriert bezeichnen. Ich kann nicht behaupten, dass Schopenhauer frustriert wäre, denn er hat uns mit seinem Werk wirklich die Augen für unsere übelsten Schwächen gezeigt, und dazu gehört ein sehr starker Charakter. Wenn er von der Einsamkeit als etwas Positivem spricht, dann hat er Recht, und dann kommt hier teilweise auch seine positive Sicht der Dinge zutage. Was mich ein bisschen stört, ist, dass er dem Leben, dem Menschen zu viel Schicksalhaftigkeit anhaftet. Zumindest sprachlich drückt er dies oft aus, indem dem Menschen etwas geschieht und nicht dass der Mensch etwas macht und deshalb diese und jene Konsequenzen zu tragen hat. Mit seiner Überzeugung, dass der Mensch nicht selbst für sein Leben verantwortlich ist, tut er ihm Unrecht. Für mich entscheidet der Mensch selbst über sein Schicksal, vieles ist natürlich unbewusst, aber wir sollten danach trachten, unsere unbewussten Gedanken und Gefühle und Taten uns immer bewusster zu machen. Zumindest darüber nachdenken, im Nachhinein überlegen ob das gut war, was wir getan, gedacht und gefühlt haben. Diese ist schon eine einigermaßen faire Chance für uns Menschen, unser Leben in die Hand zu nehmen. Selbst wenn alles nur Illusion ist, ist doch egal, zumindest können wir uns einbilden das Beste getan zu haben. Schopenhauer lässt das Beste gar nicht zu. Er will bewusst aus dieser negativen Welt fliehen, weil diese Welt nur Probleme und Schmerz mit sich bringt. Und deshalb reißt er alle anderen Menschen auch mit und empfiehlt uns unserem Willen keine Chance zu geben, sich zu entfalten.

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