Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Eine Rezension

„Die Wirklichkeit ist immer nur der Anfang eines Weges ins Unbekannte“

Proust zu lesen bedeutet, eine Welt zu betreten, deren Luft so dünn wird, dass man das Gefühl hat, in eine eigene sterile, saubere Geisteswelt einzutauchen. In diesem Roman kommen nur die subtilsten, „saubersten“ Gedanken vor. Es gibt nur Geist, keine Erde. Die Keime, die wahrgenommen werden, strahlen ausschließlich aus dem Gewissen aus. In diesem Roman geschieht nichts Ruckartiges, die „Action“ findet im Inneren des Protagonisten statt, die äußeren Ereignisse lösen eine Lawine an Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen und Überlegungen aus, die der Autor meisterhaft in allen Details darlegt.

14 Jahre hat Marcel Proust an diesem 7-Bändigen Werk gearbeitet, immer wieder Änderungen und Korrekturen vorgenommen. Von schwächlicher Gesundheit, aber reich, konnte sich Proust ein Leben lang mit Kunst und Kultur befassen und in Kontakt mit Persönlichkeiten aus den höchsten Bildungs- und Aristokratiekreisen treten.

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist ein grandioses Werk, das allgemein von Zeit, Erinnerung, Liebe, Eifersucht und bürgerlichem, aristokratischen Leben in der Zeit der Belle Epoque in Frankreich erzählt. Als Bildungsroman breitet sich die bürgerliche Welt des 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Greifen nahe vor dem Leser aus, manche der zahlreichen Protagonisten, wie dem Ich-Erzähler oder Odette und Madame de Guermantes wird man nie wieder vergessen können. Minutiös werden sämtliche Landschaften beschrieben, Proust schreibt seitenlang nur über Sträucher und Blumen zum Beispiel, die er in einem Park sieht, und zwei Bücher später tauchen dieselben Sträucher und Blumen wieder in seiner Erinnerung auf. Die Stärke von Proust Romans liegt aber nicht so sehr in der Beschreibung der äußeren Ereignisse und der materiellen Welt, sondern viel eher in der stilistisch und inhaltlich brillanten Beobachtung und minutiösen, bis ins letzte Detail ausgefeilten Beschreibung von Bewusstseinszuständen, Gefühlen und Gedanken, welche sich so in die Länge und Breite ziehen, dass die Zeit ausgedehnt wird und darin keine Chronologie, keine Messung mehr möglich ist. Am Ende der Lektüre wird man gewahr, wie unmerklich die Zeit vergangen ist.

Ich persönlich hatte das Gefühl, ins Innere, in die Gedanken- und Gefühlswelt des Ich-Erzählers Swann zu treten, als würde ich mit seinen Augen und seinen Gefühlen alles erleben, aber noch mehr, als würde ich in einem in jeglicher Hinsicht ausgedehnten Geist schweben, um aber immer wieder doch diese Art von punktueller Realität zu erleben, und zwar immer dann, wenn der Protagonist, meistens durch andere Menschen und sich in Gesellschaft begebend, auf den Boden der Tatsachen katapultiert wird und die Mauer zwischen seinem Inneren und der Außenwelt dadurch durchbricht.

Ein einzelner, bestimmter Bewusstseinszustand wird in diesem Werk oft auf mehr als zweihundert Seiten beschrieben und analysiert. Den zerhackten Assoziationsfluss, der uns heutzutage von einem Thema zum anderen springen lässt und unsere Gedanken infiziert, gibt es in diesem Buch nicht; ein Gedanke wird nicht nur zu Ende gedacht, sondern von allen, einem Menschen möglichen Blickwinkeln betrachtet und gefühlsmäßig erfasst, in seiner Oberfläche und seiner Tiefe. Ein Gedanke wird mit den Sinnen erfasst, mit dem Körper, mit dem Geist und Proust spielt fast damit, setzt diesen Gedanken mit anderen Gedanken in Bezug, mit der Welt, mit der Realität, mit der Phantasie. In Prousts Werk einzutauchen, sich darauf einzulassen zahlt sich schon deshalb aus, weil man am Ende das Gefühl hat, den eigenen Geist bereichert, das eigene Leben um eine wichtige Dimension erweitert und vertieft zu haben.

Die Gabe Prousts besteht darin, dem Leser vor Augen zu führen, wie man sich bei Ausführung bestimmter Tätigkeiten, beim Denken bestimmter Gedanken fühlt; die Beschreibungen darüber sind dermaßen ausführlich und doch sensibel und leicht nachvollziehbar, dass sämtliche Geisteswissenschaftler von ihm noch etwas lernen könnten.

Ein großer Teil des Romans untersucht das Phänomen der Liebe, der verliebten erwiderten und unerwiderten Liebe, der Leidenschaften, die Menschen füreinander empfinden. Proust wird nie ausfällig oder grob, alle leid- und freudvollen Regungen, selbst die stärksten und intensivsten, die negativsten und positivsten, werden auf sublime, geistreiche Art beschrieben. Darin liegt auch eine große Stärke des Autors, Gegenstände und materielle Manifestationen davon, ausschließlich mit seinem feinen Geist zu erfassen und zu beschreiben. Proust würde nie das Wort „Sex“ benützen, nicht einmal „Geschlechtsverkehr“ oder „küssen“, diese Tätigkeiten kommen alle im Buch vor, werden aber ganz anders beschrieben, seitenweise von Gedanken und Gefühlen geschmückt, so dass die Tätigkeit an sich ein kleiner Punkt inmitten eines großen Ozeans an Innerlichkeit bleibt. Und dies verhält sich mit allen äußeren Tätigkeiten und gesehenen Gegenständen und Landschaften auf die gleiche Weise. Proust lässt jemanden etwas sehen, berühren, sagen oder hören und bettet dies in einem großen Ganzen ein, so dass sich das Gesehene, Berührte, Gehörte und Gefühlte in einem breiten Raum im „Gehirn“ verliert und mehr noch, im Geiste sublimiert wird.

Proust gelingt außerdem eine genaue Interpretation und Darlegung des Phänomens der Erinnerung. In Band 7 erinnert sich der Ich-Erzähler an die Ereignisse von Band 1, aber nicht grob und zerhackt, sondern fein und doch präzise, dieser Regungen, Gefühle, die durch Sinneserfahrungen, wie beim Essen des in Tee eingetauchten Gebäcks zum Beispiel, einige Jahre später bei derselben Tätigkeit unverändert und doch bereichert um die gegenwärtige Situation, zum Vorschein kommen und dieselben Gefühle, Impressionen und Gedanken evozieren. Die Lebensspanne vom Kind zum Greis wird in meisterhafter Form entwickelt, und der siebente Band ist eine Rückschau auf das Leben des Protagonisten, die aber aufgrund eines realen Ereignisses geschieht, als Marcel all seine Bekannten und Freunde auf einem Salonempfang trifft, die mittlerweile auch alle älter, manche gleich geblieben, manche unkenntlich geworden sind. So schließt sich am Ende ein Lebenskreis auf meisterhafte Weise.

Die Übersetzung ins Deutsche durch Eva Rechel-Mertens und Luzius Keller ist sehr gut gelungen, ich fragte mich ständig, wie es jemand schaffen konnte, dieses Werk zu übersetzen und jene inneren Regungen und Bewusstseinszustände so meisterhaft in eine anderen Sprache zu übertragen.

Diese 7 Bände haben mein Leben und meinen Geist nicht nur bereichert, sondern auch erweitert und zum Teil verändert, insofern, dass sich meine Gedanken und Gefühle nach der Lektüre in hohem Maßen verfeinert haben.

Mich interessierten am meisten die philosophischen Passagen, derer es viele gibt und in meisterhaftem Stil von Proust zur Sprache gebracht wurden. Im Folgenden eine kleine Kostprobe aus jedem Band:

Band 1 – die von den meisten Kritikern zitierte Stelle:

In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, wie die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. Woher strömte diese mächtige Freude mir zu?

Band 2

Wie könnte man einen Menschen vergessen, den man von jeher liebt!

Gewöhnlich leben wir mit einem auf das Minimum reduzierten Teil unseres Wesens, die meisten unserer Fähigkeiten wachen gar nicht auf, weil sie sich in dem Bewusstsein zur Ruhe begeben, dass die Gewohnheit schon weiß, was sie zu tun hat, und ihrer nicht bedarf.

Unsere Aufmerksamkeit füllt ein Zimmer mit Gegenständen an, doch unsere Gewohnheit lässt sie wieder verschwinden und schafft uns selber darin Platz.

Band 3

Wir können ganz nach unserer Wahl uns der einen oder der anderen von zwei Kräften hingeben; die eine steigt aus uns selber auf, sie entströmt den Erlebnissen unseres Inneren, die andere kommt uns von außen zu. Die erste trägt von Natur eine Freude in sich, wie sie dem Leben schöpferischer Menschen entquillt. Die andere Strömung, die auf uns die Bewegtheit zu übertragen versucht, von der Personen außer uns bestimmt werden, ist nicht von Genuss begleitet; doch können wir ihr rückwirkend etwas Ähnliches hinzusetzen in Gestalt eines Rausches, der so künstlich ist, dass er sehr schnell zu Überdruss und Traurigkeit wird; daher die vielen trüben Gesichter in der mondänen Gesellschaft, daher auch die vielen nervösen Zustände, die zuweilen bis zum Selbstmord führen.

Band 4

Unaufhörlich verändern die Menschen im Verhältnis zu uns ihren Platz. In dem unspürbaren, aber ewigen Lauf der Welt halten wir sie für unbeweglich, denn unsere Sicht von ihnen ist zu kurz, als dass wir die Bewegungen, die sie weitertreibt, wirklich feststellen könnten. Doch wir brauchen nur aus unserer Erinnerung zwei Bilder von ihnen zu verschiedenen Zeitpunkten auszuwählen, die gleichwohl noch nahe genug beieinander liegen, dass sie sich objektiv mindestens spürbar nicht verändert haben, und es wird die Verschiedenheit der beiden die Ortsveränderung bezeichnen, die der Dargestellte in unserem Bewusstsein erfahren hat.

Band 5

Wir bilden uns ein, der Gegenstand der Liebe sei ein Wesen, das vor uns ruhend daliegen kann und in einem Körper eingeschlossen ist. Aber ach! Ihr Gegenstand ist vielmehr die Ausdehnung dieses Wesens bis zu allen Punkten des Raumes und der Zeit, die es je berührt hat und berühren wird.

Die einzige wahre Reise, der einzige Jungbrunnen wäre für uns, wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, die Welt mit den Augen eines anderen, von hundert anderen betrachten, die hundert verschiedenen Welten sehen könnten, die jeder einzelne sieht, die jeder von ihnen ist.

Band 6

Nur in der Vorstellung, die wir von ihnen haben, existieren andere Wesen.

Die Bande zwischen einem anderen und uns existieren nur in unserem Denken. Wenn das Gedächtnis nachlässt, lockern sie sich, und ungeachtet der Illusion, der wir gern erliegen würden […], sind wir im Leben allein. Der Mensch ist das Wesen, das nicht aus sich heraus kann, das den anderen nur in sich selbst kennt und das lügt, wenn es das Gegenteil behauptet.

Der Tod wirkt nur wie Abwesenheit.

Band 7

Ich hatte doch immer schon unser Individuum zu einem gegebenen Zeitpunkt als einen Polypen angesehen, bei dem das Auge als ein unabhängiger, wenn auch dem übrigen eingefügter Organismus in zuckende Bewegungen gerät, sobald ein Partikelchen vorüberzieht, ohne dass der Verstand den Befehl dazu erteilt, oder mehr noch, bei dem die Gedärme wie ein im Inneren versenkter Parasit sich infizieren, ohne dass der Verstand etwas davon weiß, und in gleicher Weise unsere Seele – auf die Dauer des Lebens betrachtet – als eine Folge von nebeneinander gestellten und deutlich unterschiedenen Ichs, die nacheinander sterben oder sogar miteinander abwechseln würden wie diejenigen, von denen in Combray für mich eines an die Stelle des anderen trat, wenn der Abend kam. Ich hatte aber auch gesehen, dass diese seelischen Zellen, aus denen ein Wesen sich zusammensetzt, beständiger sind als dieses Wesen selbst.

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