Die Frau ohne Eigenschaften

In Anlehnung an den Titel „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, einem Opus Magnum der Weltliteratur, möchte ich hier einige assoziative Gedanken zu diesem Titel vorlegen.

Stefan Zweigs Sprache (und nicht Robert Musils) ist voll von Eigenschaftswörtern. In der absoluten Stille gibt es aber keine.

Eigenschaften sind Vorurteile, die sich der Mensch ausgedacht hat, um sich selbst zu beruhigen oder aufzuregen.

Bewegungsunfähig, um ja keinen falschen Schritt zu machen. Falsch: Eine Eigenschaft, die auch durch richtig ersetzt werden könnte. Richtig und falsch – zwei Schritte zu viel.

Bewegung ist eine Sache des Körpers, des Geistes nur insofern, dass die Theorie zukunftsorientiert bleibt, eine Utopie sozusagen. Der Geist ist utopisch und strebt nach Kreation. Der Körper bewegt sich, damit er wieder jung wird, strebt in die Vergangenheit.

Ich wollte einen Text über das Altern schreiben, wieder eine Eigenschaft, die zu viel Raum einnimmt.

Eigenschaften, Adjektive, Zuschreibungen sind dazu erfunden worden, um sozial miteinander kommunizieren zu können. Du bist schön, fleißig, intelligent, krank, blöd und hässlich – verändern unsere Wahrnehmung, nicht nur die Wahrnehmung der anderen, sondern auch die von uns selbst. Eigenschaften wie lieb, teuer, gut und böse sind nicht so konkret und greifbar, wie wir Menschen damit eigentlich umgehen. Sogar Hauptwörter können zu nicht greifbaren Gegenständen mutieren. In einem Buch von Wolf Wondratschek las ich vor kurzem den Satz: „Es geht nicht darum, ein Stück Holz zu nehmen, um daraus ein Brett zu machen, sondern darum, ein Stück Holz zu nehmen und einen Baum daraus zu machen.“

Die fehlende Zuschreibung von Eigenschaften führt dazu, dass man mehr Raum zum Denken hat. Sprachlos nachzudenken heißt, Raum für Gefühle, Ahnungen, Befindlichkeiten zuzulassen.

Ich, als Mensch, habe alle Eigenschaften und deswegen keine.

Bedeutung kann ich auch ohne Eigenschaften schaffen.

Die Würde und der Wert eines Menschen sind nicht an Eigenschaften gebunden.

Jetzt bin ich müde, in fünf Minuten bin ich munter, in zehn Minuten nicht müde und nicht munter, also was bin ich dann? Lassen wir die Eigenschaften müde und munter einmal weg. Was bleibt? Raum für andere Eigenschaften: ich bin glücklich, traurig, hungrig, wütend, enttäuscht, selig und so weiter.

Lassen wir nun alle Eigenschaften weg. Was bin ich jetzt? Ein Mensch, ein Körper, ein Gesicht, ein Nervenbündel, ein mit Organen, Gedanken und Gefühlen gefüllter Körper?! Lassen wir nun diese offensichtlichen Tatsachen auch weg. Wohin wandern unsere Gedanken nun? Wieder zu Eigenschaften. Auf mich bezogen vielleicht in der Art von Wortzuschreibungen wie: unverständlich, dumm, intelligent, einflussreich … zweiflussreich. Zweiflussreich? Zweiflussreich kommt aber darin nicht vor, denn dieses Wort gibt es nicht.

Deshalb gefällt mir der Titel: Frau ohne Eigenschaften, denn wenn ich keine oder bestenfalls alle Eigenschaften habe, kann ich ja noch welche erfinden, wie zweiflussreich.

Die Sprachverwirrung, den Turm von Babel, will ich auf die Spitze treiben, damit klar wird, aus wie vielen Vorurteilen und Beschränkungen wir eigentlich bestehen.

Sprache ist dazu da, erweitert zu werden, nicht eingeschränkt. Expansion statt Reduktion, zwei Kräfte.

Sprache kann so verwendet werden, dass sie verschwendet wird, viele Wörter um nichts oder dass sie sparsam eingesetzt wird, überlegt oder gar nicht. Es gibt ja Klosterschwestern, die ein Schweigegelübde abgelegt haben und wie die Yogis oder Mönche in einer anderen Welt leben als der unseren. Sie sind nicht von dieser Welt, jenseits von gut und böse, würde Nietzsche sagen.

Wörter sind mit Vorsicht zu genießen, zu hinterfragen, als Philosophin sollte ich mir immer die Frage stellen: Gibt es dieses Wort überhaupt und was bedeutet es? Natürlich ist die Gefahr groß, Verwirrung in sich selbst zu stiften. Wenn ich an keine Eigenschaften mehr glaube, die heute verwendet werden, dann begebe ich mich in eine Art Niemandsland.

Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ heißt Ulrich und für die damalige Zeit begibt er sich in ein Niemandsland. Er überschreitet jegliche Konvention und versucht etwas Neues aus sich zu schaffen, Verwirrung für die anderen und für sich selbst stiftend.

Ich möchte keine Verwirrung stiften, sondern den Blick erweitern für Möglichkeiten, die von uns gar nicht in Betracht gezogen werden, gar nicht wahrgenommen werden, aus Angst, den Halt zu verlieren, oder sich zu blamieren, oder nicht ernst genommen zu werden, nicht geliebt, nicht anerkannt. Genau das ist aber Vorbedingung für die Erweiterung des Selbst, für das Ablegen von Konventionen, erlernten Mustern und Vorurteilen. Immanuel Kant hatte unrecht mit dem Satz: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Mein Satz lautet: Habe Mut, dich deiner verzerrten Wahrnehmung zu bedienen – Guarda al di là delle cose: schaue über, hinter, unter die Dinge, oder schaue die Dinge so lange vorurteilsfrei und sprachlos an, bis sie dir etwas zeigen, was du noch nicht kennst.

Zum Schluss noch ein Zitat aus Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“:

Wir wissen, dass sich das Leben ebenso in die unmenschlichen Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schichte von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten davon anfechten zu lassen, dass das bloß die Bevorzugung der Eindrücke bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches Verhalten liegt beträchtlich unter der Höhe unseres Verstandes, aber gerade das beweist, dass unser Gefühl stark daran teilhat. Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der Erhaltung eines beständigen Gemütszustands, und alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewussten Anstrengung, welche die Menschheit macht, um sich ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren! Es lohnt sich scheinbar kaum, davon zu reden, so klaglos wirkt es. Aber wenn man näher hinsieht, ist es doch ein äußerst künstlicher Bewusstseinszustand, der dem Menschen den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt würdevoll die Hand zwischen den zweiten und dritten Rockknopf zu stecken. Und um das zuwege zu bringen, gebraucht nicht nur jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebenso gut wie der Weise, sondern diese persönlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und Gesamtheit, die im Größeren dem gleichen Zweck dienen. Dieses Ineinandergreifen ist ähnlich dem der großen Natur, wo alle Kraftfelder des Kosmos in das der Erde hineinwirken. Ohne dass man es merkt, weil das irdische Geschehen eben das Ergebnis ist, und die dadurch bewirkte geistige Entlastung ist so groß, dass sich die Weisesten genau so wie die kleinen Mädchen, die nichts wissen, in ungestörtem Zustande sehr klug und gut vorkommen.

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