Irgendwo, irgendwie muss ich anfangen, das Wort, dieses Modalverb „Müssen“ aus meinem Sprachschatz zu löschen, nicht mehr so häufig, so oft in meiner gesprochenen Sprache zu verwenden. Müssen, ich muss, du musst, er/sie/es muss, wir müssen, ihr müsst, sie müssen, sagt im Grunde gar nichts aus, es ist eine negative Machtäußerung.
Ein Fleck ist nicht blind und ein Blinder ist kein Fleck. Aber ein blinder Fleck sagt etwas Bestimmtes aus und zwar, dass ich, du, er, sie, etwas nicht sehen, etwas übersehen, an einem Rand unseres Gesichtsfeldes, sei es rechts oder links, jeder hat so seine bevorzugte Seite. Wenn jemand so wie ich manchmal sehr viel Phantasie einsetzt, um den blinden Fleck auszumachen, ihn zu füllen mit abstruse, ausgedachte Gedanken und vielleicht sogar Gefühle, kann er/ich mir nicht sicher sein, ob das der Wahrheit entspricht, ob ich diesen blinden Fleck wahrheitsgetreu sehe und ausfülle, denn ansonsten würde er ja nicht blinder Fleck heißen. Der blinde Fleck ist im Grunde das Unerklärliche, Unsichere, Unbestimmte, Unzulängliche. Eine Theorie, die sich darauf spezialisiert, alles erklären zu wollen ist somit nicht wahrheitsgetreu. Ein abgeschlossenes System gibt es im Leben nicht, denn der blinde Fleck führt aus diesem heraus. Soll ich glücklich oder traurig sein, nach solch einer Erkenntnis? Sehen andere meine blinden Flecken? Sehe ich ihre? Natürlich bildet man sich viel ein. Schützt Wissen vor der Größe eines blinden Flecks? Je mehr ich weiß, desto kleiner wird der blinde Fleck, verschwinden wird er wohl nie?!
Ich möchte gern ein Uhu sein, der seinen Kopf um 180 Grad drehen kann. Und doch kann auch der Uhu nicht gleichzeitig nach vorne und nach hinten schauen. So viele Dinge sind unbedeutend in ihrer Ausführung. Ob ich etwas tue oder nicht spielt im Grunde keine Rolle, im Gegenteil. Tun ist gleichbedeutend mit Nichtstun, denn Unterlassungen wirken sich genau so aus wie Taten. Den blinden Fleck sieht man nur im Gespräch und Zusammensein mit anderen. In einem offenen, ehrlichen Gespräch, sieht man vielleicht oder erahnt den eigenen blinden Fleck, den die anderen aussprechen. Ich bin 50. Kann ich mich ändern, innerlich? Äußerlich schon, durch Sport, durch Pflege meines Körpers. Innerlich? Die Gewohnheiten im Denken zu ändern ist schwer, denn die Gewohnheiten führen zu einer individuellen Sicherheit. Wiederholung führt zu Geborgenheit und Sicherheit. Der blinde Fleck ist etwas Neues für einen selbst. Wenn ein anderer, mein Gegenüber, meinen blinden Fleck sieht, dann sieht er nicht mich, meine subjektive Empfindung, das, was ich denke und bin, sondern er sieht neben mich, das, was neben mir steht und vielleicht zum Ausdruck gebracht werden will, das, was ich für mich unbewusst zum Ausdruck bringe, also mein Unbewusstes ist für mein Gegenüber etwas bewusst Wahrnehmbares und umgekehrt. Aber keiner vertraut dem Gegenüber zu 100 Prozent, sodass dem anderen nicht geglaubt wird, sich nicht einlässt auf das, was er sieht und wahrnimmt. Denn er könnte mich auch bewusst fehlleiten wollen, oder er sieht meinen blinden Fleck gefärbt von seinen gewohnten Gedanken.
Selbst wenn Ehrlichkeit und Offenheit gegeben sind, muss (ich wollte diese Wort nicht mehr verwenden, ist aber in diesem Zusammenhang unerlässlich) etwas hinzukommen, da sein: Zumindest die Bereitschaft den anderen zu lieben, wenn man schon nicht lieben kann, die Bereitschaft ist schön und ein Schritt in die richtige Richtung.
Richtung und richtig, richt, witzig. Direzione und diretto, also die Richtung ist im Italienischen direkt, möchte man gar nicht glauben, bei den unübersichtlichen Straßenverhältnissen in Italien. Jetzt verstehe ich auch besser, warum die deutschsprachigen Menschen so vieles ständig in Richtig und Falsch einteilen. Sie wollen immer in die richtige Richtung schauen und gehen, die Italiener wollen direkt von A nach B kommen, unabhängig davon, ob der Weg richtig oder falsch ist. Richtig und Falsch ist keine Option.
Aufbrechen, es ist schön, den blinden Fleck bei jemand anderem aufzubrechen, ihm zu zeigen, dass er mehr ist als er denkt. Viele lassen sich darauf nicht ein, weil sie Angst haben oder faul sind. Recht behalten zu wollen ist oft so etwas. Aber eben: Wie kann ich meinem Gegenüber vertrauen? Etwas zu sehen, was ich nicht sehe und mir der andere zeigt, ist wie eine Kritik an mir, das bewusst nicht zu sehen, ich weiß etwas nicht, es fehlt mir etwas. Arroganz und Demut fallen als Begriffe hier hinein. Es ist arrogant, wenn mir mein Gegenüber sagt, was ich nicht sehe und demütig, wenn ich es annehme und glaube. Wer sieht mehr? Der Arrogante oder der Demütige? Und wo ist die Grenze die gezogen werden sollte, um sich in seiner Arroganz oder Demut nicht zu verlieren?
Blind und Fleck, arm und schmutzig. Ein schmutziges Nichtsehen. Ein anderes Wort für Fleck würde vielleicht das Vertauen stärken. Blinder Bereich vielleicht. Punto cieco auf Italienisch. Blinder Punkt. Die Italiener wieder!: Minimalisten, wenn es um das „Fehlerhafte“ geht.
Wenn jemand sich mit meinem blinden Fleck beschäftigt, ohne dass ich es muss, wie schön ist das? Empathie ist vielleicht nichts Anderes als die blinden Flecken des anderen zu sehen, und dazu im Zusammenhang mit der eigenen Wahrnehmung verbinden, also wirklich den Fleck leben, im eigenen Dasein integrieren und somit weiter denken, selbst etwas Neues zu erfahren.
Die Zusammenhänge sehen, Zusammenhänge, die nicht mit dem gewohnten Denken übereinstimmen. Zusammenhänge, die verunsichern, denn vielleicht nicht richtig eben. Das ist Kreativität. Kreativität ist aber immer richtig, oder? Also auch immer wahr. Man empfindet etwas als wahr und wenn es für einen wahr ist, dann ist das auch wahr.
„Er sucht meine Nähe“ ist genauso wahr wie: „Sie sucht meine Nähe nicht.“ Das weiß man doch!
Meine große Frage derzeit lautet? Bin ich ein Solipsist?
Dieses eingeschlossen Sein in sich selbst, lässt meine blinden Flecken vielleicht so anwachsen, dass ich nur mehr ein materielles Teilchen bin, ohne Gehirn und Gefühle. Wo geht’s hier zum Ausgang? Ein Exit Schild ist immer gut.
Deshalb meine ich, es ist besser sich zu täuschen, als an gar nichts Neues zu denken, für einen Neu, meine ich.
Die Schrift, die bleibt, ist bewegungslos.